Sonntag, 22. Juni 2014

Sie sind am Zug - ein kleiner moderner Knigge für den Bahnkunden.

Nun ist es wieder so weit. Sie benutzen die Bahn. Voller Vorfreude auf die kommenden Ereignisse und das Erlebnis des Bahnfahrens machen sie sich frisch gewaschen und gebügelt auf den Weg zum Bahnhof. Sie haben ihre Fahrkarte, sie haben ihr Gepäck - aber seien sie ehrlich mit sich selber ! Wissen sie eigentlich wie man sich stilecht und parkettsicher heute in der Bahn benimmt. Ihre soziale Bildung und ihr Benehmen stammen sicher noch aus der Zeit, in der man mit Krawatte und halbsteifem Hut in der Öffentlichkeit auftrat und man sein Taschentuch mit Eau de Cologne tränkte. Auch ich bin lange Zeit noch mit den Verhaltensweisen aus den 60er Jahren aufgewachsen und mein Großvater setzte alles daran, mir das Benehmen eines kultivierten Menschen beizubringen. Das ist natürlich alles überholt. Heute benimmt man sich anders. Wenn auch sie nicht schon aus fünfzig Metern Entfernung von unserer jungen Bevölkerung als mehr oder minder liebenswertes Fossil wahrgenommen werden wollen, sollten sie die unten aufgelisteten Verhaltensweisen verinnerlichen.

Wie kaufe ich eine Fahrkarte ?
Früher stellte man sich in die Schlange am Schalter an und wenn man an der Reihe war, formulierte man sein Reiseanliegen den Schalterbeamten gegenüber höflich und mit Respekt. HA - das war früher. In Zeiten der Demokratie und Leistungsgesellschaft ist das überholt. Drängen sie sich in der Schlange vor. Die Menschen heute mögen Leistungsträger mit Durchsetzungsvermögen. Man wird sie bewundern. Die alte Dame mit Rollator hatte ihre Chance. Ein leichter Stoß in die Rippen oder ein charmanter Schlag in den Nacken wird auch den hartnäckigsten Menschen in der Schlange davon überzeugen, dass ihr Reiseanliegen von besonderer Bedeutung ist. Am Schalter selber sollten sie im Rahmen eines effizienten Kundenkontakts auf unnötige Formeln wie "Guten Tag" oder "Guten Morgen" verzichten. Zeigen sie dem Kundenberater, dass sie sich nicht für etwas Besseres halten und verwenden sie das intime "Du". Falls es sich um eine weibliche Kraft handeln sollte, lassen sie ihren Charme spielen und ergänzen die ihre Bestellung um die Anrede "Schnecke" oder (falls die Mitarbeiterin ihre Mutter sein könnte) um "Alte". Das schafft Vertrauen und macht sie sympathisch. Falls sie ihre Fahrkarte jedoch am Automaten kaufen sollten, beweisen sie den Umstehenden ihre Sportlichkeit und treten mit dem Elan eines hochdotierten Fußballers gegen den Automaten.

Auf dem Bahnsteig !
Hier warten sie auf ihren Zug. Es ist Zeit für Entspannung. Kauen sie ein Kaugummi, rauchen sie einen Joint oder trinken sie einen Flasche Bier. Hier ist die Intimzone der Reisenden ! Hier können sie das letzte Mal ohne Bedenken relaxen. Nutzen sie die Zeit, um ein letztes Mal ihre Blase zu entleeren. Dafür bietet sich der Bahnsteig an (der Schotter im Gleisbett ist nicht umsonst so angelegt, das Flüssigkeiten schnell versickern). Für die Verrichtung große "Geschäfte" können sie getrost den Aufzug zum Bahnsteig benutzen. Ihre Mitreisenden werden ihre noncharlante Art im Umgang mit dem Eigentum der DB zu würdigen wissen. Falls der Zug mehr als 30 Sekunden Verspätung haben sollte, protestieren sie lautstark und unter Verwendung von Verbalinjurien beim Bahnpersonal. Zeigen sie ihre Durchsetzungsfähigkeit. Hierbei kann allein durch die Lautstärke ihres Protestes das Einfahren des Zuges beschleunigt werden. Bei Einlaufen des Zuges bewegen sie sich unter Einsatz ihrer Ellenbogen an den anderen Fahrgästen vorbei zu den Zugtüren. Schwere Koffer sollten sie bereits aus 2 Metern Entfernung mit Elan in die Türöffnungen katapultieren. Reisen sie in einer Gruppe ? Stürmen sie zur Waggontür und blockieren diese für ihre Freunde, die noch in der Bahnhofshalle eine Tageszeitung kaufen. Dadurch zeigen sie soziale Kompetenz und ermöglichen den Zugbegleitern eine kurze Verschnaufpause. Man wird ihnen danken.

Im Waggon !
Nehmen sie Platz und machen sie es sich bequem- es ist ihr gutes Recht! Ist der Platz gegenüber unbesetzt, so sollten Sie die Füße hochlegen. Die Bahn ist für jeden entspannten Fahrgast dankbar. Außerdem zeigen sie den Zugbegleiter ihren guten Geschmack im Bereich moderner Schuhmode.
Sind sie mit ihrer Freundin oder ihrem Freund unterwegs, so bietet sich natürlich an, die Fahrtzeit mit dem intensiven Austausch von intimen Zärtlichkeiten zu verbringen. Mitreisende Fahrgäste und das Zugpersonal werden sie für ihren ungezwungenen Umgang bewundern. Oder nutzen sie die Zeit ihr Smartphone zum Musikhören zu verwenden? Gute Idee - aber sie sollten ihre Mitreisenden nicht um den Genuß der Musik betrügen. Drehen sie den Lautsprecher auf volle Lautstärke und lassen sie ihre Mitmenschen am Genuß teilhaben. Falls ihnen ein Hungergefühl die Reise zu verderben droht, so zögern sie nicht, ihre mitgebrachten Köstlichkeiten im Waggon zu verzehren. Hier sollten sie auf unnötige Konventionen verzichten (man ist ja quasi unter sich). Lautes Rülpsen zeugt von gesunder Verdauung und das Verteilen von Krümeln und Essensresten auf den Sitzen beweist angenehm ungezwungenen Umgang mit der Situation und fördert das Wohlbefinden aller. Bieten Sie ihren Mitreisenden einen Schluck aus der mitgebrachten Bierflasche an.Verpackungreste entsorgen sie elegant auf dem Boden. Das erhält dem Reinigungspersonal langfristige Arbeitsplätze.
Falls sie aus dem Fenster sehen und interessante Landschaften, Sehenswürdigkeiten oder Supermärkte sehen, zögern sie nicht. Die schnelle Benutzung der Notbremse verschafft ihnen und ihren Mitreisenden  die Gelegenheit zum günstigen Einkauf im gleisnahen Verbrauchermarkt oder der Besichtungung eines historischen Gebäudes. Lassen sie die Möglichkeit kultureller Verschnaufpausen nicht ungenutzt. Alleinreisende des bevorzugten Geschlechts sind übrigens genauso wenig einem handfesten Flirt abgeneigt, wie das Bahnpersonal. Hier sollten sie ihren Neigungen freien Lauf lassen.

Das Bahnpersonal
Sie haben ihre Fahrkarte teuer bezahlt. Das macht sie zu einem Angehörigen einer privilegierten Elite. Zeigen sie sich jovial. Klopfen sie dem Schaffner mit Schmackes auf die Schulter. Geben sie der Zugbegleiterin ruhig einen freundschaftlichen Kuss. Falls jedoch ein Fehler auftritt oder der Zug eventuell verspätet sein sollte, so lassen sie ihre aufgestaute Frustration nach Gutsherrenart am Begleitpersonal aus. Sie sind schließlich im Recht. Sind sie vielleicht Bahnliebhaber ? Dann nutzen sie ihre Chance. Steigen sie ohne große Formalitäten in den Triebwagen oder die Lokomotive. Statten sie dem sonst schrecklich einsamen Lokführer mal einen Besuch ab und geben sie ihm durch gute Ratschläge die Informationen, die er für die ordnungsgemäßes Erfüllung seines Berufes sicher dringend braucht. Legen sie Ihr Smartphone oder ihre Fotokamera ruhig in den Sichtbereich der Windschutzscheibe und nehmen sie eine Führerstandsmitfahrt auf. Das lässt sich bei youtube prima posten. Als Erinnerung an die Bahnfahrt hat sich das Hinterlassen eines Graffitis oder das Einritzen seiner Initialen in die Fensterscheibe des Waggons bewährt. Vergessen sie also nicht das Taschenmesser oder den dicken Edding.

Nach der Reise
Sie sind am Ziel angekommen und alles war zu ihrer Zufriedenheit? Nun, das ist ja sehr schön. Aber ist es das, was die Welt erfahren sollte? Nein. Denn wenn sie sich jetzt nicht beschweren, denkt die Bahndirektion, es wäre alles in Ordnung. Damit beweisen sie nur, mit wie wenig sie zufrieden sind.. Das macht nur bequem Beschweren Sie sich. Dadurch zeigen sie der Deutschen Bahn, dass sie Ihnen am Herzen liegt. War vielleicht das ausliegende Lesemagazin nicht das Neueste oder hatte gar ein Eselsohr? War der Zug eventuell 20 Sekunden zu spät am Ziel? Lagen Krümel im Wagen? Lassen sie sich etwas einfallen! Nur so wird die Deutsche Bahn ihre Bemühungen noch verstärken, ihnen eine schöne und preiswerte Reise zu ermöglichen. Falls es ihnen an Beschwerdegründen gebricht, so informieren sie sich schon während der Zugfahrt per Internet in den entsprechenden Nörgel-Foren. Bei etwas gutem Willen, lassen sich immer Gründe für eine Beschwerde finden. Und vielleicht belohnt sie die Bahn dafür sogar mit einem Freigetränk der einem Reisegutschein. Also munter beschwehrt ! Glauben Sie mir : Man wird sich ihrer erinnern und ihnen dankbar sein.

Heute befolgen schon zahlreiche Bahnreisende meine Verhaltensvorschläge. Stehen Sie nicht im Abseits. Machen Sie mit! Seien sie modern und auf der Höhe der Zeit. Denn jetzt sind sie am Zug!

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